Rolf Schälike -
17.12.2003
Berlin - 1949
Hamburger Abendblatt, 17. Dezember 2003
Schulleiter schockiert : Bande sprengt
UnterrichtSieben Schüler einer anderen Schule
stürmten während des Unterrichts in ein Klassenzimmer und zerrten einen
15-jährigen aus dem Raum - nur, weil er angeblich eine Freundin beleidigt
hat. Ein Lehrer, der die Neunklässler gerade unterrichtete, stellte sich
dazwischen. Er wurde einfach zu Boden gestoßen.
Großes Aufsehen in der Presse, die 7
Schüler bilden eine Bande, die Täter wurden am nächsten direkt aus der
Schule abgeführt.
______________
Mir kommen die Erinnerungen an Berlin 1949.
Ich war 10 Jahre alt und ging mit meinem
Bruder in die russische Besatzerschule Berlin-Karlshorst zur Schule. Wir
trugen, wie alle Schüler in der Sowjetunion und in England, auch in Berlin eine
Schuluniform.
Der Nachhauseweg führte von der
Straßenbahnhaltestelle durch die Volkradstraße in die Miquelstraße, in der
wir wohnten.
Das Stück Volkradstraße, eine typische
zweigeteilte Dorfstraße, links und rechts mit alten Bauerhäusern und einen
Gut, in der Mitte ein breiter Grünstreifen mit Bäumen, am Anfang der
Straße eine Kirche, deren zerstörter Turm nach dem Krieg wieder aufgebaut
wurde.
Wie oft, ich weiß es nicht mehr. Auf dem
Nachhauseweg gingen wir das Risiko ein, auf diesen Stück der Straße
abgefangen und als Russenkinder von 3 älteren Schülern, die von der
anderen Straßenseite kamen,
verprügelt zu werden.
In der Regel versuchten wir mit
meinem Bruder, das Stück bis zur U-Bahn-Haltestelle mit dem Bus zu fahren.
Aber die Busse fuhren nicht immer oder uns war Risiko, verprügelt zu
werden, weniger wert als das anstrengende Warten auf den Bus.
Die Prügel waren nicht verheerend, aber
unangenehm.
Irgendwann erzählte ich das in meiner
vierten Russen-Klasse.
Ein Schüler, kleiner als ich, den ich
ansonsten nicht kannte, bot mit Hilfe an und wir gingen noch am gleichen Tag
zusammen dieses Stück der Volkradstraße.
Wieder wurden wir von 3 Größeren
"überfallen". Der Kleine prügelt die drei windelweich, wie es
mir schien. Ich stand daneben, war je kein Prügelheld.
Ab da hatten wir mit meinem Bruder Ruhe.
Keine Polizei, kein Einschalten unser
Eltern, keine Idee, dass es sich bei den drei Jugendlichen um eine Bande handelte,
kein Gedanke daran, dass die Jugendkriminalität überhand nimmt.
Ich kannte und kenne die drei "Bandenmitglieder"
nicht, habe mich mit diesen auch nicht ausgesprochen, nicht versucht, diese
zu erziehen.
Sie hatte ja ihre verständlichen
Gründe. Nur die Methode und das Ziel war wohl falsch.
Das werden diese Drei ohne Gerichte und Polizei
begriffen haben.
Heute wäre wahrscheinlich mein kleiner
Eintagesfreund ein krimineller Jugendlicher.
Wir hatten das Gewaltmonopol missachtet.
Warum die Erinnerungen an 1949?
Eindringen in eine neunte Klasse und das
Wegschubsen eines Lehrers, das Herauszerren des "Beleidigers" - all das
ohne körperliche Verletzungen - haben doch ihre Gründe.
Beleidigung einer Freundin kann so
verletzend sein, dass gerade bei 14-jährigen solch übertriebene natürliche Reaktionen durchaus möglich sind.
Warum gleich eine Bande?
Der
Beleidigende hat
allerdings das Gesetz
auf seiner Seite.
Entspricht das Gesetz und dessen Anwendung jedoch nicht dem, was die
Natur uns vorschreibt, so setzt
sich die Natur einfach durch.
Und dann sind es nicht nur Banden, sondern
Bürgerkriege, sinnlose Zerstörungen, das Leiden Unbeteiligter - all das,
was es laut dem Hamburger Abendblatt bei diesem "schockierenden" Ereignis
nicht gab.
Mich schockiert die Unbeholfenheit und die
unnötige, ich meine z.T. heuchlerische Betroffenheit meiner im Hamburger
Abendblatt zu Wort
kommenden Mitmenschen und Journalisten.
Zum gleichen Thema:
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Dieses
Dokument wurde zuletzt aktualisiert am 21.12.03.
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