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Pascal-Verfahren Seit fast zwei Jahren beschaeftigt das spurlose Verschwinden des fuenfjaehrigen Pascal das Landgericht Saarbruecken. Der Fall ist gekennzeichnet von Ermittlungspannen, mageren Beweisen und einem zweifelhaften ersten Urteil. Der Pascal-Prozess ist laengst zum Politikum geworden. Eine Zwischenbilanz. Saarbruecken - Der Psychologieprofessor Max Steller aus Berlin ist ein hoch angesehener Wissenschaftler. Als Sachverstaendiger in Gerichtsverfahren wird er oft hinzugezogen, vor allem wenn es darum geht, Zeugenaussagen auf ihre Glaubhaftigkeit hin zu ueberpruefen. Er hat anlaesslich der Wormser Missbrauchsprozesse vor dem Landgericht Mainz in den neunziger Jahren neben anderen namhaften Sachverstaendigen den Richtern erklaert, wie es zu den - jeder Grundlage entbehrenden - Massenbeschuldigungen durch kleine Kinder kommen konnte. Der Bundesgerichtshof bediente sich spaeter seiner Sachkunde, als es darum ging, Mindestanforderungen fuer aussagekraeftige psychologische Gutachten zu formulieren. Auch im "Pascal-Verfahren" vor dem Landgericht Saarbruecken spielt Steller jetzt eine Rolle. Als der fuenfjaehrige Pascal am 30. September 2001 in Saarbruecken spurlos verschwand, geriet die Polizei unter erheblichen Druck: Ein Kind wird doch nicht vom Erdboden verschluckt. Die Ermittler gingen Hunderten von Hinweisen nach; sie verdaechtigten sogar die halbwuechsigen Stiefschwestern des Jungen, die sich schliesslich selbst bezichtigten, ihn erschlagen und beseitigt zu haben; eine gleichaltrige Freundin der Maedchen behauptete, die Tat beobachtet zu haben. Doch nichts davon stimmte. Die drei jungen Frauen hatten dem Druck, der in den Vernehmungen auf sie ausgeuebt worden war, nicht standgehalten. Sie hatten einfach etwas dahingeredet, als sie nicht mehr ein noch aus wussten, so dass eine der Schwestern sogar in U-Haft kam - eine peinliche Ermittlungspanne, die nicht noch einmal passieren durfte. Es dauerte mehr als ein Jahr, bis ein anderer kleiner Saarbruecker Junge, der 1995 geborene Kevin*, der leibliche Sohn der im laufenden Pascal-Prozess angeklagten Andrea M., nach Besuchen einer auf Missbrauch spezialisierten Beratungsstelle zoegernd zu erzaehlen begann, er sei in einer Kneipe im Saarbruecker Stadtteil Burbach sexuell missbraucht worden. Bald nannte der Junge Namen ueber Namen. Unter anderen benannte er als Taeter einen Mann namens Peter Sch., den er aus jener Kneipe kannte. Umfangreiche Ermittlungen begannen. Saemtliche Stammgaeste des Lokals gerieten ins Visier der Polizei. Eine Verbindung in Richtung Pascal gab es zu der Zeit, Ende 2002, zwar nicht. Den Kriminalbeamten fiel jedoch auf, dass der verschwundene Pascal in der Naehe der besagten Kneipe gewohnt hatte. "Nach welcher Leiche haben Sie gesucht?" Wohnungen wurden auf den Kopf gestellt, nach Beweisen fuer Handel mit kinderpornografischen Fotos und Filmen, von denen Kevin gesprochen hatte, wurde mit Hochdruck gesucht. Die Ermittler rueckten sogar mit Leichenspuerhunden an. "Nach welcher Leiche haben Sie denn gesucht", fragte dieser Tage einer der Richter verdutzt den betreffenden Kripobeamten als Zeugen, "es gab doch noch gar keinen Hinweis auf Pascal." Objektiv nicht, doch in den Koepfen der Ermittler wuchsen schon die Phantasien, der angebliche Missbrauch Kevins und das Verschwinden Pascals koennten vielleicht irgendwie zusammenhaengen. Das ergab ein Bild, das es nur noch zu komplettieren galt. Andere Ermittlungsansaetze wurden schnell, womoeglich vorschnell, hintan gestellt. Warum pickte sich die Staatsanwaltschaft aus dem Gaestekreis der Kneipe ausgerechnet jenen Peter Sch. heraus, um gegen ihn als ersten einen Prozess wegen sexuellen Kindesmissbrauchs (es ging gleich um Kevin und Pascal, weil Sch. die Namen durcheinander brachte) anzustrengen und ihn am 17. Oktober 2003 gleichsam im Schnellverfahren nach nur zwei Verhandlungstagen zu einer mittlerweile rechtskraeftigen Freiheitsstrafe von sieben Jahren zu verurteilen? Warum bekam Sch. keinen Strafverteidiger an die Seite gestellt, sondern nur einen Arbeitsrechtler? Weil er der wehrloseste war unter den zum Teil geistig beschraenkten, labilen, gestoerten oder alkoholabhaengigen Verdaechtigen? Einer, bei dem sich am leichtesten das gewuenschte Ergebnis erzielen liess, naemlich ein fuer eine Verurteilung ausreichendes Gestaendnis? Dieser Eindruck draengt sich auf, verfolgt man die Verdachtslage im Pascal-Prozess bis zu ihren Anfaengen zurueck. Professor Steller, den die Kripo angesichts der unablaessig wechselnden Aussagen der Zeugen aus dem Burbacher Trinker-Milieu als Berater hinzugezogen hatte, warnte schon im Maerz 2003 davor, auf Kevins Angaben allein Verurteilungen zu stuetzen. Denn die Annahme, dass bei dem von einer Pflegefamilie in die naechste abgeschobenen Jungen eine geradezu klassisch zu nennende Ausgangslage fuer die Entstehung suggestionsbedingter Vorstellungsinhalte gegeben war, lag ueberaus nahe. Steller riet eindringlich, zusaetzlich zu Kevins Angaben nach objektiven Beweisen zu suchen, um gegebenenfalls Anklagen damit zu stuetzen. Zeuge mit zwei Gesichtern? Bekanntlich gibt es im Pascal-Verfahren weder eine Leiche, noch Blut-, Sperma-, Finger- oder Faserspuren. Es gibt nur einen Wust von Aussagen, vorweg das "Gestaendnis" jenes Peter Sch. oder die vielfaeltigen Angaben der psychisch beeintraechtigten Andrea M., die immer wieder etwas anderes erzaehlte bis in die Hauptverhandlung hinein; juengst hat sie wieder einmal eine neue Version praesentiert, die in wesentlichen Punkten von allem bisher Gesagten abweicht. Von anderen Angeklagten gibt es nur Widerrufe dessen, was sie aus Wichtigtuerei, Rachsucht oder Leichtfertigkeit anfangs dahingeplappert hatten. Sch. aber ist verurteilt. Mit diesem Urteil hat man vollendete Tatsachen geschaffen. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft sind Sch.s Angaben seitdem ein "Beweis", eine durch Rechtskraft gekroente Anklagebasis. Die 1. Strafkammer des Landgerichts Saarbruecken hat Sch. als Zeugen im Pascal-Prozess vernommen. Es war ein Fiasko. Die Vernehmung musste abgebrochen werden, weil der behinderte Mann, der am ganzen Leib zitterte, nicht in der Lage war, auch nur einen vernuenftigen Satz von sich zu geben. Der Vernehmungsbeamte jedoch, der Sch. im Januar 2003 verhoert hatte, erst als Zeugen, dann als Beschuldigten, erinnert sich an eine "fluessige Darstellung", es habe "keinerlei Kommunikationsprobleme" gegeben, Sch. habe "frei erzaehlt", so schnell, dass man mit dem Protokollieren gar nicht mitkam, und er habe sich am Ende richtig "erleichtert gefuehlt". Aufgefallen sei lediglich, dass der Mann "null Unrechtsbewusstsein" gehabt habe. Wie kann das sein? Ist der hilflose Peter Sch. etwa ein Mann mit zwei Gesichtern? Eine Art Dr. Jekyll und Mr. Hyde? Das ist so abwegig wie die Spekulation, die Angeklagten haetten als Mitglieder einer verschworenen Gemeinschaft einen Kinderschaenderring aufgezogen und gleichzeitig ihr verbrecherisches Tun jahrelang perfekt hinter einer Mauer des Schweigens verborgen. Sind die auffallend aehnlichen Hirngespinste der sogenannten Kinderschuetzer, wie sie in den Wormser Prozessen vor dem Landgericht Mainz auftraten, schon vergessen? Der Vorsitzende Ulrich Chudoba traute seinen Ohren nicht, als ihm Sch. als kalter, wortgewandter Kinderschaender geschildert wurde: "Ich tu' mich sehr schwer, Herr Zeuge", sagte er zu dem Kripobeamten, "das nachzuvollziehen, was Sie hier aussagen. Wir haben Herrn Sch. naemlich ganz anders kennen gelernt." Es geht nur noch ums Geld Der im Herbst 2004 begonnene Pascal-Prozess, der jetzt von einer Sommerpause unterbrochen wird, ist laengst in hoechstem Mass notleidend. Die Reste an "Beweisen" sind am Wegbrechen. Es gibt keinen Ersatzrichter, so dass angesichts der angegriffenen Gesundheit des Vorsitzenden das Verfahren ueberdies jederzeit platzen kann. Nach der juengsten Entlassung der letzten Angeklagten aus der U-Haft, die zum Teil dreieinhalb Jahre inhaftiert waren, wachsen Unmut und politischer Druck. Der Prozess ist mittlerweile ein Politikum. Das Saarland kann sich die Millionenkosten des zweifelhaften Justizspektakels nicht mehr leisten. Es geht inzwischen kaum noch um Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern nur noch ums Geld. Es ist schon so weit, dass Anwaelte um ihre Honorare feilschen muessen; sie bekommen ihre Gebuehren nicht oder werden mit grotesken Begruendungen heruntergehandelt. Man spart, indem jeder der zwoelf Angeklagten nur einen Verteidiger an der Seite hat (einmalig in einem derart schwierigen Prozess solchen Umfangs). Mitte September soll, wie dieser Tage verlautete, auch noch die Freistellung der Kammer enden; dann sollen die Richter wieder in den normalen Justizalltag eingegliedert werden. Das heisst, sie haben neben dem Pascal-Verfahren noch andere Prozesse zu fuehren. Der saarlaendischen Justiz werden auf Dauer naemlich zwei Schwurgerichtskammern zu teuer. Nicht gespart wird allerdings an der Nebenklage. Da sitzen Anwaelte fuer Kevin, fuer die Schwestern Pascals und sogar fuer Pascal selbst (obwohl er laut Anklage ja tot ist). Dass die ueber die Prozessentwicklung erboste Pflegemutter Kevins, der geradezu ein Hexentreiben gegen die Gerichtsentscheidungen hinter den Kulissen nachgesagt wird, an den Sitzungen trotz anwaltlicher Vertretung regelmaessig selbst teilnimmt, obwohl sie demnaechst als Zeugin befragt werden wird (wer traegt eigentlich die Kosten fuer ihre Vertretung zu Hause bei den Pflegekindern?), ist ein weiterer Punkt, der Aufmerksamkeit verdient. Die Frage, ob der Opferschutz bisweilen nicht das Mass des Vernuenftigen uebersteigt, bedarf dringend der Diskussion. Mit Finten hereingelegt Am fragwuerdigsten in Saarbruecken ist allerdings das Urteil gegen Peter Sch. Er war in seinem Verfahren so gut wie nicht verteidigt. Vor der wichtigsten Beschuldigtenvernehmung, waehrend der er vergebens um einen Anwalt bat, war er nicht einmal belehrt worden ("Na, er wird doch wohl gewusst haben, dass er die Wahrheit sagen muss", merkte Oberstaatsanwalt Pattar dazu sueffisant an); sie haette nicht verwertet werden duerfen. Sch.s Aussagetuechtigkeit wurde gar nicht erst eroertert, obwohl Sch.s Verstandesschwaeche und Labilitaet sogar jedem Laien ins Auge springt. Jetzt, im Pascal-Prozess, konstatiert der Saarbruecker Haus- und Hofgutachter Michael Roesler bei dem Mann eine nur sehr bedingte Aussagetuechtigkeit, die zuvor anscheinend niemanden interessiert hatte. Gaebe es in Saarbruecken eine funktionierende Justiz, haette die Staatsanwaltschaft niemals das fragwuerdige Sch.-Urteil fuer die Anklage im Pascal-Prozess benutzt. Wie es dazu kam, mit welchen Finten der Mann hereingelegt worden war, kommt jetzt im Pascal-Prozess zu Tage. Eine Wiederaufnahme durch die Staatsanwaltschaft von Amts wegen waere geboten. uebrigens: Gegen den nervenkranken Sch. war auch noch Sicherungsverwahrung verhaengt worden - weil er Kindern mal einen Pornofilm gezeigt hatte und dafuer mit einer Geldstrafe belegt worden war. * Name geaendert
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Rolf Schaelike |